Wie Intention Klang formt – in Film, Games und Werbung

Wenn ich Musik für eine Szene schreibe, beginnt alles mit einer einzigen Frage:

Was braucht diese Szene wirklich?

Soll meine Musik etwas erzählen, das im Bild (noch) nicht sichtbar ist? Oder soll sie das, was bereits da ist, emotional verstärken? Diese Entscheidung ist der kreative Kern.
Sie beeinflusst alles: die Harmonie, das Tempo, die Instrumentierung. Dann verlasse ich mich aufs Gefühl. Ich improvisiere.

So lange, bis Musik und Bild nicht mehr nebeneinander stehen – sondern miteinander atmen.

Warum wir komponieren, was wir komponieren

Wie bewusst treffen wir Entscheidungen über Tonart, Takt, Klangfarbe oder Leitmotive?

Wie viel erzählerische Absicht steckt wirklich hinter einem Akkordwechsel, einer Klangfarbe, einer Stille?

Die kurze Antwort: Sehr viel.

Musik ist niemals neutral

Filmmusik gilt oft als „dienend“. Doch sie ist nie unsichtbar.
Bereits die Entscheidung für Moll statt Dur, für ein Adagio statt Allegro, verändert die Wahrnehmung einer Szene dramatisch (Boltz, 2001).

Studien zeigen, dass Musik die emotionale Intensität einer Figur nicht nur verstärken, sondern auch umlenken kann:

  • Thriller-Musik erzeugt Angst.
  • Melodramatische Musik verstärkt Empathie.
  • Ein geschlossener Schlussakkord kann sogar ein Gefühl von narrativem Abschluss erzeugen – selbst wenn das Bild offen bleibt (Thompson et al., 1994; Juslin & Sloboda, 2009).

Musik formt Erinnerung.

Sie prägt, was bleibt – und was wirkt.

Kontrast: Wenn Musik widerspricht, um zu berühren

Eine langsame, melancholische Melodie unter einer hektischen Kampfszene?
Manche der eindrucksvollsten Filmszenen entstehen genau durch diesen Kontrast.

  • Samuel Barber – Adagio for Strings unter Kriegsbildern in Platoon
  • Gustavo Santaolalla – The Last of Us: Zarte Töne treffen auf brutale Endzeit
  • Max Richter: Seine Musik hebt Schmerz in Schönheit – oft in dokumentarischen Kontexten verwendet, wo sie Mitgefühl erzeugt statt Pathos

Der Kontrast zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir hören, lässt Raum für Interpretation – und genau darin liegt die Magie.

Games: Wenn Musik reagiert

In Videospielen entsteht Musik im Moment. Sie reagiert auf den Spieler, auf Entscheidungen, auf das Timing.

Das bedeutet für uns Komponist:innen:

Wir müssen zwei Ebenen gleichzeitig denken:

  • Musikalische Intention: Welche Emotion soll vermittelt werden?
  • Technische Umsetzung: Wie reagiert die Musik adaptiv auf das Gameplay?

Adaptive Musiksysteme wie FMOD oder Wwise ermöglichen genau das.
Studien zeigen: Adaptivität steigert Immersion und emotionales Engagement erheblich (Hutchings & McCormack, 2019).
Im Forschungsfeld Ludomusicology wird analysiert, wie Musik und Gameplay verschmelzen (Collins, 2008; van Elferen, 2016).

Intention als Handschrift: Zwei Beispiele

  • Howard Shore – Der Herr der Ringe

    Jeder Ort, jede Figur hat ihr Leitmotiv. Diese Themen werden variiert, subtil verknüpft, rhythmisch gespiegelt. Shore komponiert Weltaufbau durch Musik.
  • Patrick Doyle – Sense and Sensibility

    Zurückhaltende Streicher, elegante Themen, zögerliche Ausbrüche. Die Musik spiegelt gesellschaftliche Unterdrückung und unterdrückte Gefühle – ohne sie je auszusprechen.

Werbung: Intention, aber anders

In Film und Game erzählt Musik mit – sie unterstützt die Geschichte, widerspricht ihr manchmal oder führt sie weiter. In der Werbung dagegen steht oft Emotional Branding im Fokus:
Die Musik soll wiedererkennbar sein, Stimmungen erzeugen, Assoziationen wecken.

Aber auch hier gibt es Intention:

  • Ironische Musik zu ernsten Bildern
  • Nostalgie durch Akkordfolgen
  • Max-Richter-ähnliche Reduktion in Apple-Werbespots

Es ist kein Gegensatz – sondern ein anderer Zweck.

Und wie entscheide ich?

Wenn ich komponiere, vermischen sich:

  • Intuition: Ein Gefühl für das, was die Szene verlangt
  • Wissen: Harmonie, Tempo, Klangfarbe gezielt einsetzen
  • Erfahrung: Welche Strategien wirken emotional – und warum?

Der wichtigste Kompass bleibt:

Will ich mit der Musik etwas erzählen – oder etwas verstärken?

Diese Frage stelle ich mir bei jeder neuen Szene.

Und die Antwort liegt nicht immer im Verstand – sondern im Herz.

Schlusswort & Denkanstoß

Musik ist nie bloß Untermalung. Sie ist das Unsichtbare, das alles spürbar macht.
Ein Comic funktioniert ohne Ton. Aber ein gut gesetzter Score macht aus einem Blick eine Erinnerung – und aus Stille ein Echo.

“Music is not what is written. It is what is meant.” – Gustav Mahler

Welche Szene ist dir besonders im Gedächtnis geblieben – wegen ihrer Musik?

Welche deiner eigenen Projekte waren getragen von bewusster Intention?

Quellen

  • Boltz, M. (2001). Musical soundtracks as a schematic influence on the cognitive processing of filmed events. Music Perception, 18(4), 427–454.

    ➡️ Zur Studie
  • Wei, C., Kronland-Martinet, T., & Barthet, M. (2022). Influence of Music on Perceived Emotions in Film. Audio Engineering Society Convention 153.

    ➡️ PDF lesen
  • Hutchings, P., & McCormack, J. (2019). Adaptive music in video games. In Music and Game.
  •  Collins, K. (2008). Game Sound: An Introduction to the History, Theory, and Practice of Video Game Music and Sound Design.